Individualisiertes Lernen ist ja keine neue Erfindung, aber vor allem im Kontext der Inklusion immer wieder ein gern benutzter Begriff. Gerade im Moment, wenn darüber diskutiert wird, wann, wie und für wen Schulen öffnen sollen, gewinnt es meiner Ansicht nach jedoch noch stärker an Gewicht. Bei der Abwägung der passenden Szenarien für meine Schule, speziell für die Abschlussjahrgänge 9 und 10, sehen ich eine Menge Chancen, sich aus der individualisierten Perspektive den Lösungsoptionen zu nähern. Beim Schreiben dieser Zeilen sehe ich vordergründig natürlich meine 9. Klasse einer Gemeinschaftsschule.
Das Ganze sollte meiner Meinung nach mit einer Bestandsaufnahme beginnen, bei der man die SchülerInnen befragt, wie sie selbst einschätzen, in welchem Umfang sie effektiv alleine zu Hause lernen können. Das hängt von vielen Faktoren ab:
- Haben sie zu Hause Arbeitsraum und -ruhe.
- Haben sie zu Hause Unterstützung.
- Welche Aufgaben müssen sie aktuell in der Familie übernehmen.
- Ist die technische Ausstattung den Aufgaben angemessen.
- Haben sie die nötige Selbstkompetenz im Sinne von Disziplin, Durchhaltevermögen und Problemlösungsfähigkeit.
Diese Liste könnte man sicher noch erweitern. Im zweiten Schritt sollten die LehrerInnen, die eng mit der Lerngruppe arbeiten und die einzelnen SchülerInnen gut kennen, darüber beraten, inwieweit die Selbsteinschätzung realistisch und zielführend ist. Ein Schüler, der plant mit einem mittelguten ESA in die berufliche Ausbildung zu gehen und bei dem schon alles unter Dach und Fach ist, ist anders motiviert und braucht ganz andere Aufgaben als jemand, der plant im kommenden Jahr einen guten MSA zu machen und dann vielleicht weiter in die Oberstufe zu gehen. Dementsprechend sollten auch die Aufgaben und Ziele individualisiert werden und die LehrerInnen sollten überlegen, was jeder Einzelne braucht, damit die individuellen Ziele erreicht werden können und das auch mit dem Schüler besprechen und konkrete Vereinbarungen darüber treffen, wann Teilziele erreicht sein sollen und wie diese zu überprüfen sind.
Das würde für die Schulorganisation bedeuten, dass es Zeiten und Räume geben muss, in denen diejenigen unterstützt arbeiten können, die das für sich als die passende Arbeitsweise sehen. Darüber hinaus kann man Sprechstundenzeiten mit Terminvergabe planen, in denen einzelne Schüler sich mit den Lehrerkräften treffen und das bereits Geschaffte evaluieren, neue Zielabsprachen treffen und Hilfemöglichkeiten vereinbaren, die beispielsweise online durch Mitschüler oder Lehrkräfte erfolgen könnten.
Das hätte aus meiner Sicht auch den Vorteil, dass man weniger Sorge haben müsste, dass zu viele Personen auf zu engem Raum unterwegs sind, als wenn man alle SchülerInnen einer Abschlussklasse zur gleichen Zeit in die Schule bestellt und dann gesplittet in verschiedenen Räumen unterrichtet oder in einem Schichtsystem Teilgruppen in der Schule unterrichtet.
Da man sich als Lehrkraft ja ohnehin Gedanken machen muss, wie man die Zeit bis zur Prüfung auf den verschiedenen Levels, die in der Klasse vertreten sind, plant und organisiert, und sich sehr wahrscheinlich auf wesentliche Kompetenzen und Inhalte festlegt, ist der Vorbereitungsaufwand im Sinn der Formulierung der Arbeitsaufträge und der Materialbereitstellung überschaubar. Das bedeutet, dass viel Zeit für die individuelle Beratung, Unterstützung und Feedback bleibt.
In vielen Beiträgen in den sozialen Medien, die Eltern in der Zeit des Homeschoolings verfasst haben, wurde deutlich, dass offensichtlich Lehrkräfte Aufgaben im Sinne einer Beschäftigungstherapie aufgegeben haben, was ich sehr schade finde. Natürlich sollten SchülerInnen ein möglichst breites Angebot an Bildung bekommen und das umfasst eben nicht nur Deutsch, Englisch und Mathe. Aber auch hier sehe ich die Individualisierung als Chance für die Motivation der SchülerInnen, denn welchen Nutzen hat es, wenn alle ein Frühlingsbild mit Aquarellfarben malen sollen, weil es in Kunst grad dran ist? Worum geht es denn eigentlich? Ja, SchülerInnen sollten künstlerische Ausdrucksformen kennen lernen, um ihre eigenen Eindrücke und Gefühle für andere wahrnehmbar machen zu können. Aber gelingt das bei allen durch besagtes Frühlingsbild? Ganz sicher nicht und warum dann nicht die Palette mit anderen Darstellungsformen erweitern, die auch nicht zwingend visuell oder selbstgemalt sein müssen. Stärkenorientierung und die Nutzung der Energie, die intrinsische Motivation erzeugen kann, bedeutet nicht gleichzeitig, dass alle anderen Themen und Kompetenzen unnötig werden, aber gerade in Zeiten wie diesen, in denen aus psychologischer Sicht die Fähigkeit zur Selbstmotivation für Kinder und Jugendliche immens wichtig ist, sollte diese eher gefördert und nicht unterdrückt werden.
Mir ist durchaus bewusst, dass es aus Sicht derer, die Schule konservativer oder geprägt aus ihren eigenen Schulerfahrungen sehen, eine Menge Angriffspunkte in Bezug auf Leistungsorientierung, Benotung, Lehrpläne etc. sehen könnten. Aber meine Haltung zu Bildung im Allgemeinen und in der aktuellen Phase im Speziellen begründet sich auf meine Erfahrungen der letzten zehn Jahre, in denen ich nacheinander zwei Klassen mit großartigen Menschen von der 5. Klasse bis zu ihren jeweiligen Abschluss begleiten und unterstützen durfte und deren regelmäßige Rückmeldung mich gelehrt hat, ebendiese Haltung zu entwickeln.
Eine kleine Umfrage in meiner Klasse bestätigt mich in meiner Haltung und meinen Ideen.
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